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Es liegt eine Form von Boshaftigkeit in der Ausbildung sozialer Ordnungen. Die Despotie liegt am einen Ende des Spektrums, die Sklaverei am anderen.
Tlaloc, Zeit der Titanen
Als die Armee der Menschheit nach dem Sieg über die Denkmaschinen nach Salusa Secundus zurückkehrte, übertrafen die Schwindel erregenden Feiern in Zimia und auf allen anderen Liga-Welten sogar die Leidenschaft von Rayna Butlers fanatischen Maschinenstürmern.
Geschichten über die Schlacht von Corrin machten die Runde und wurden immer weiter ausgeschmückt. Die unnachgiebige Härte des Höchsten Bashars an der Brücke der Hrethgir hatte eine Katastrophe in einen uneingeschränkten Triumph verwandelt, bei dem der Feind auf ewig ausgelöscht worden war. Der Allgeist von Omnius war restlos eliminiert worden, und über tausend Jahre der Unterdrückung durch die Maschinen waren vorüber. Die Menschheit war endlich wieder frei und konnte ungehindert ihren Marsch in die Zukunft antreten, selbstbestimmend und selbstverantwortlich.
Vorian Atreides, der Held der Schlacht von Corrin, nahm zur Siegesfeier seinen Platz neben Viceroy Faykan Butler und Rayna Butler auf dem großen Platz von Salusa ein. Der Höchste Bashar trug seine beste Galauniform, einschließlich der neuen Orden und Auszeichnungen, die man eigens für ihn entworfen hatte. Er hatte den Militärdienst aus persönlichen Gründen geleistet, seit Serena ihn von der ursprünglichen Macht der Menschheit überzeugt hatte. Als er nun die ausgelassene Menge beobachtete, machte er sich große Sorgen um den Weg, den sich die Menschen in die Zukunft bahnen würden.
Überall in Zimia sah er die Narben der kürzlichen Aufstände der Kultanhänger: niedergebrannte Gebäude, zerschlagene Fassaden, die verstreuten Trümmer von einstmals nützlichen Maschinen. Der Serena-Kult war stark vertreten im Publikum, und überall wurden Fahnen und symbolische Knüppel hochgehalten. Nachgebaute Roboter wurden von der johlenden Menge zertrümmert, als wäre alles nur ein Kinderspiel.
Trotz allem sah Faykan seine Nichte lächelnd an und sonnte sich neben ihr in ihrem Glanz. Vorian erkannte nur zu deutlich, was er damit beabsichtigte.
Vorian wusste, dass der Viceroy auf der langen Heimreise viele Pläne mit seiner leidenschaftlichen Nichte ausgebrütet hatte, noch während sie sich allmählich von ihren Verletzungen erholte. Faykan hatte ihr die Stellung der Großen Matriarchin angeboten, aber seltsamerweise war die blasse junge Frau nicht im Geringsten an diesem Titel interessiert. Sie wollte nur, dass ihr Onkel versprach, sie bei der sozialen Säuberung zu unterstützen, die sie sich für die Liga vorstellte.
Solche weit reichenden Hoffnungen hegte Vorian jedoch nicht. Wenn Rayna ihre Säuberungsaktionen fortsetzte, würde die rücksichtslose Auslöschung jeglicher höheren Technik über alle bewohnten Planeten hinwegfegen. Jeder konnte absehen, dass sich daran ein neues dunkles Zeitalter anschließen würde. Doch im Augenblick befürchtete Vorian, dass Faykan sich am meisten Sorgen über die Sicherung seiner persönlichen Machtbasis machte. Im gegenwärtigen Klima hätte der Viceroy keinen weltlichen Staat ohne emotionales Drumherum begründen können.
Nachdem die Menschen plötzlich von ihren unmenschlichen Feinden befreit waren, wandten sie sich voller Dank und Hoffnung wieder ihren Religionen zu. Blindes Vertrauen war eine Energiequelle, die die Liga würde anzapfen müssen. Der Menschheit standen Jahrhunderte des Wiederaufbaus bevor, doch Faykan glaubte offenbar nicht daran, dass sie diese schwierige Aufgabe nur aus politischer Notwendigkeit bewältigen konnte. Sie brauchten einen zusätzlichen Antrieb.
Bedauerlicherweise mussten Raynas Anhänger erneut Unruhe verbreiten, nachdem ihre Dämonen von der Bildfläche verschwunden waren und sobald die Euphorie über die siegreiche Schlacht von Corrin verflogen war. Vorian ahnte, dass ihnen schwierige Zeiten bevorstanden ...
Im strahlenden Sonnenschein eines vollkommenen Tages hob Viceroy Butler die Hände. Der Jubel schwoll zu einem ohrenbetäubenden Crescendo an, der wieder nachließ, bis völlige Stille herrschte. Faykan spielte mit der Menge und den Erwartungen der Menschen. Schließlich rief er: »Dies ist eine Zeit der großen Veränderungen! Nach tausend Jahren des Leids haben wir uns den höchsten Triumph verdient, wie er uns von Gott versprochen wurde. Wir haben für unseren Sieg einen ungeheuren Preis entrichten müssen. Das werden wir niemals vergessen. Wir können die Bedeutung der Schlacht von Corrin gar nicht überschätzen, genauso wenig wie die wunderbaren Gelegenheiten, die die Zukunft uns eröffnet.
Um dieses großen Ereignisses zu gedenken, gemeinsam mit meiner Nichte Rayna Butler und dem Höchsten Bashar Vorian Atreides, verkünde ich nun, dass ich meine Stellung als Viceroy mit den Pflichten des Großen Patriarchen zusammenlegen werde, nachdem dieses Amt seit dem Mord an Xander Boro-Ginjo unbesetzt ist.
Von diesem Tag an soll die Macht nicht mehr aufgeteilt und verdünnt werden, sondern ausschließlich in den Händen einer Person liegen, in meinen und denen meiner Nachfolger. Vor uns liegt viel Arbeit, um unsere ausgelaugte Liga der Edlen mit einer mächtigeren Regierungsform auszustatten, als das bisher der Fall war. Wir werden eine neues Imperium der Menschheit erschaffen, das wachsen und dem Ruhm des Alten Imperium nacheifern soll – während es gleichzeitig die fatalen Fehler jener Zeit vermeidet.«
Wie auf ein Stichwort brach die Menge in lauten Jubel aus. Vorian war zwar durch diese Ankündigung überrascht, aber nicht sonderlich verstimmt. Er hatte nie einen Sinn im Amt des Großen Patriarchen gesehen, das ursprünglich für Iblis Ginjos Interessen geschaffen worden war. Nun sah Vorian in Faykan Butlers Lächeln ein Echo von Serena und ihren leidenschaftlichsten Anhängern.
Als der Tumult nachließ, legte Faykan eine Hand auf Raynas schlanke Schulter. »Und damit niemand vergisst, wie sehr wir uns verändert haben, werde ich von nun an nicht mehr unter dem Namen Butler bekannt sein. Ich entstamme einer großen und ehrenvollen Familie, aber vom heutigen Tag an möchte ich, dass mein Name an die Schlacht von Corrin erinnert, die Krönung meiner Laufbahn, mit der die Zeit der Denkmaschinen zu Ende ging.«
Richtig, dachte Vorian und hatte Mühe, ein zynisches Grinsen zu unterdrücken. Es war ausschließlich deine Leistung.
»Fortan soll die Menschheit«, fuhr Faykan fort, »mich Corrino nennen, damit all meine Nachkommen sich an diese Schlacht und diesen großen Tag erinnern.«
Ganz im Gegensatz zur ekstatischen Feier war die Stimmung düster und hasserfüllt, als der Gefangene Abulurd Harkonnen am folgenden Nachmittag in den gewaltigen Parlamentssaal gebracht wurde, um über die gegen ihn erhobenen Anklagen zu verhandeln. Ursprünglich hatte Faykan darauf bestanden, dass sein jüngerer Bruder in Ketten hereingezerrt wurde, aber Vorian hatte es ihm ausgeredet, in einem letzten Aufflackern des Mitgefühls für einen Mann, der einmal sein Freund gewesen war. »Er trägt bereits die Ketten seiner Schuld. Sein Gewissen ist schwerer als alles, was wir ihm antun könnten.«
Draußen auf den Straßen hatte sich der Pöbel versammelt, der gierig nach einem neuen Feind suchte, an dem er seine Wut auslassen konnte. Die Menschen heulten empört und verfluchten den Verräter. Hätten sie die Gelegenheit erhalten, hätte sie Abulurd in Stücke gerissen. Er hatte die Vergeltungsflotte im Augenblick der größten Not handlungsunfähig gemacht. Weder die Menschen noch die Geschichte würden ihm diese Tat jemals verzeihen.
Im Saal verfolgten die Abgeordneten der Liga und die Vertreter des Militärs, wie Abulurd vor das Podium geführt wurde. Während der Rückreise nach Corrin waren die meisten Verletzungen abgeheilt, die Abulurd durch Prügel zugefügt worden waren, aber er wirkte immer noch matt und lädiert. Das Publikum beobachtete ihn mit spürbarem Hass und Zorn. Obwohl alle von den außergewöhnlichen Leistungen des Bashars wussten, konnte nichts die Schwere der gegen ihn erhobenen Anklagen mindern.
Faykan stand auf dem Sprecherpodium und empfing den in Ungnade gefallenen Offizier – seinen eigenen Bruder, auch wenn sie seit Jahren keinen gemeinsamen Familiennamen mehr geführt hatten. »Abulurd Harkonnen, ehemaliger Offizier der Armee der Menschheit, Sie sind des Hochverrats an der Menschheit angeklagt. Ob in unlauterer Absicht oder durch irregeleitetes Urteilsvermögen hätte unsere Flotte durch Ihre Tat beinahe schwersten Schaden erlitten – und damit auch die gesamte Menschheit. Wollen Sie Ihre Ehre weiterhin dadurch beschmutzen, dass Sie Entschuldigungen für Ihr Verhalten vorbringen?«
Abulurd neigte den Kopf. »Aus den Unterlagen wird meine Motivation deutlich ersichtlich. Es steht Ihnen frei, sie entweder zu akzeptieren oder abzulehnen. In jedem Fall bestand keine Notwendigkeit, zwei Millionen unschuldige Geiseln zu töten, aus welchen Gründen auch immer. Wenn ich nun für meine Entscheidung büßen muss, dann soll es so sein.«
Die Menschen im Saal murrten. Für sie gab es keine Folter, die ausreichend gewesen wäre, um diesen Verräter zu bestrafen.
»Die Strafe für Verrat ist eindeutig«, sagte Faykan. »Wenn niemand eine Alternative anzubieten hat, bleibt dieser Versammlung keine andere Wahl, als Sie zum Tode zu verurteilen.«
Abulurd ließ den Kopf hängen und sagte nichts mehr. Im Saal wurde es totenstill. »Ist jemand bereit, zur Verteidigung dieses Mannes zu sprechen?«, fragte der Viceroy und blickte sich um. Er weigerte sich ostentativ, Abulurd als seinen Bruder zu bezeichnen. »Ich werde es nicht tun.«
Abulurd hielt den Blick starr zu Boden gerichtet. Er hatte beschlossen, den Anwesenden nicht in die Augen zu sehen. Der Moment des Schweigens schien ewig zu dauern.
Schließlich, als der Viceroy gerade die Hand heben wollte, um das Urteil zu verkünden, stand der Höchste Bashar Vorian Atreides langsam von seinem Sitz in der ersten Reihe auf. »Unter großen Bedenken schlage ich vor, dass wir die Anklage auf Hochverrat gegen Abulurd Harkonnen zurückziehen und die Vorwürfe auf ... Feigheit beschränken.«
Ein kollektives Aufkeuchen ging durch den Saal. Abulurd hob abrupt den Blick. »Feigheit? Ich bitte Sie, tun Sie mir das nicht an!«
»Der Tatbestand der Feigheit ist in Anbetracht seines Vergehens faktisch nicht zutreffend«, sagte Faykan leise. »Seine Taten erfüllen nicht die Kriterien der ...«
»Trotzdem ... die Anklage der Feigheit wird ihn tiefer verletzen als alles andere.« Seine Worte waren scharf wie Eiszapfen. Dann fuhr Vorian mit kräftigerer Stimme fort. »Abulurd hat einst im Kampf gegen die Denkmaschinen tapfer gedient. Während der Epidemie koordinierte er die Evakuierung und Verteidigung von Salusa Secundus, und er kämpfte an meiner Seite, als Zimia von den Metallschrecken angegriffen wurde. Aber er weigerte sich, gegen die Denkmaschinen zu kämpfen, als er von seinem legitimen Vorgesetzten dazu aufgefordert wurde. Als er vor den schrecklichen Konsequenzen einer Entscheidung stand, legte er würdelose Furcht an den Tag und ließ sich dadurch in seinen Entscheidungen beeinflussen, statt nach den Geboten der Pflicht zu handeln. Er ist ein Feigling und sollte aus der Liga verbannt werden.«
»Das ist schlimmer als der Tod«, rief Abulurd.
Vorian kniff die Augen zusammen und beugte sich vor. »Ja, Abulurd, davon bin ich ebenfalls überzeugt.«
Abulurd schien in sich zusammenzusacken, und er begann zu zittern. Nachdem er sich solche Mühe gegeben hatte, die Vorwürfe gegen seinen Großvater Xavier aus der Welt zu schaffen, traf ihn diese Anklage besonders hart.
Faykan nutzte die Gelegenheit. »Eine gute Idee, Höchster Bashar! Ich verfüge, dass die vorgeschlagene Strafe angemessen ist und ordne hiermit ihre Ausführung an. Abulurd Harkonnen, Sie wurden der Feigheit für schuldig befunden. Sie sind vielleicht der größte Feigling der Menschheitsgeschichte, sowohl wegen des Schadens, den Sie anrichteten, als auch wegen des Schaden, den Sie hätten anrichten können. Man wird Ihren Namen noch mit Verachtung aussprechen, wenn Ihr ehrloser Großvater Xavier Harkonnen längst vergessen ist.«
Vorian sprach zu Abulurd, als wären sie beide im großen Saal miteinander allein. »Sie haben mich in dem Augenblick, als ich Sie am meisten brauchte, im Stich gelassen. Ich werde nie wieder einen Blick auf Ihr Gesicht werfen. Das schwöre ich.« Mit einer dramatischen Geste wandte Vorian Atreides ihm den Rücken zu. »Von diesem Tag an soll jeder, der den Namen Atreides trägt, auf jeden mit dem Namen Harkonnen spucken.«
Ohne sich noch einmal umzublicken, verließ der Höchste Bashar den Parlamentssaal und ließ Abulurd allein in seinem Elend zurück. Nach kurzem Zögern kehrte auch Faykan Corrino seinem Bruder den Rücken zu und verließ den Saal ohne ein weiteres Wort.
Unter Gemurmel und Geraschel folgten ihnen alle versammelten militärischen Offiziere. Sie erhoben sich gleichzeitig von ihren Plätzen und ließen Abulurd mit seinem einsamen, schmachvollen Schicksal allein. Einer nach dem anderen standen auch die Parlamentsabgeordneten auf, wandten sich ab und gingen. Rasch leerte sich der Saal.
Abulurd stand zitternd im Zentrum des hallenden Raums. Er wollte schreien, um Vergebung oder Nachsicht flehen, sogar um die Exekution bitten, damit er nicht für immer mit diesem schrecklichen Mal auf seinem Namen leben musste. Doch schon bald war kein Würdenträger der Liga mehr anwesend, nur noch seine zwei Wachen. Alle Sitze im riesigen Saal waren leer.
Abulurd Harkonnen leistete keinen Widerstand, als die Wachen ihn aus dem Parlamentsgebäude führten. Er war in ein lebenslanges Exil verbannt.